meistermargarita
Mittwoch, 3. Mai 2006
Der Walfisch
Für einen Zehnjährigen war die Schule unheimlich, die riesige Treppe, der monumentale historisierende Bau aus dem Schicksalsjahr 1912, als der deutsche Generalstab die Entscheidung zum Ersten Weltkrieg fasste. Im ersten Stock das Kriegerdenkmal, ein nur mit Stahlhelm bekleideter deutscher Soldat kämpft gegen ein vielköpfige Hydra. Ich verirrte mich bei der damals obligatorischen Aufnahmeprüfung und geriet in eine falsche Klasse. Fühlte mich ziemlich einsam. Dann bekam mein Vater in dieser Schule beim Elternsprechtag einen Zusammenbruch mit folgender lebenslanger Herzneurose, nicht wegen mir, er hatte am selben Tag eine herbe Niederlage im Betrieb einstecken müssen. Später wurden wir eine berüchtigte Klasse, Referentenkiller, keine angehende weibliche Lehrkraft verließ das Klassenzimmer ohne Tränen in den Augen, die männlichen Bewerber wurden ob ihrer lächerlichen Wutanfälle verlacht.
Keiner meiner Tischnachbarn hielt es länger als ein halbes Jahr neben mir aus, sie flogen alle von der Schule. Eine andere Gemeinsamkeit haben sie bis heute, keiner von ihnen ist bisher verheiratet – was zeigt, dass sei letztendlich doch klüger als ich waren, was ich damals nicht zugegeben hätte. Die Schule hatte veraltete Heizungen, die wurden richtig kochendheiß. So stellte sich in der Klasse die Sitte ein, missliebige Schüler auf diese kochenden Heizkörper zu legen – manche wehrten sich, so dass dies oft ein ziemlich mühsames Geschäft war. Ich war zwar ansonsten kein Engel, aber daran beteiligte ich mich nur einmal, und bekam prompt vom Delinquenten einen Tritt auf die Schnauze, die Lippe platzte mir auf und Blut floss in beängstigenden Mengen. Ein Tischnachbar, schon als Teenie ein großer Weiberheld, vertrieb sich die Zeit des Unterrichts damit, ziemlich anzügliche Tabellen über seine Frauen zu erstellen, da gab es Spalten für die Oberweite wie für die Elastizität der Vulva und ähnliches mehr... flog auch raus, kam auf das Bauerngymnasium in den Landkreis, machte dort das schlechteste Abitur des Jahrgangs, erhielt per Los einen Studienplatz für Zahnmedizin und ist heute Inhaber zweiter Privatkliniken... tja, so gänga die Gäng, sagt der Franke.
Ein andere Nachbar – heute erfolgreicher Heilpraktiker, keiner, der ihn aus der Schulzeit kennt, würde im Traum dran denken, zu ihm zu gehen – also dieser Nachbar hatte immer denselben Spruch auf der Lippe, der mir heute irgendwie nicht aus dem Kopf geht: „Heute fühle ich mich wieder wie ein Walfisch .... den ganzen Tag im Tran und die meiste Kraft im Schwanz“ HAHAHA.
Mein bester Freund zeichnete sich vor allem durch seine Trinkfestigkeit aus. 20 bis 30 Biere schafften wir zu zweit durchaus. Auf der Abiturfeier warf er jedes ausgetrunkene Bierglas hinter sich. Eigenartig, niemand schritt ein. Heute ist er ein gefragter Fachmann für Entwicklungspolitik.
Ich selbst brachte es in der 11ten immerhin auf 31 verbürgte geschwänzte Schultage.Zudem gab ich abschließend eine musikalische Vorstellung zur Abiturfeier, worüber es einen Bericht in der Zeitung gab, dort hieß es u.a.: „Unmut erregte meistermargarita...“. Tja, unmutiger meistermargarita.

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Letzte Aktualisierung: 2012.01.06, 18:45
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