meistermargarita
Dienstag, 3. Oktober 2006
Kuss der Nebelkrähe


(Text und Fortsetzung vom 2. Mai - war verdammt schwer, aber gut für mich, den Anfang der fatalen Geschichte niederzuschreiben)

Der erste Kuss
Vor vielen Jahren war ein eigentlich alltäglicher Anruf auf meinem AB: „Ich möchte Herrn meistermargarita sprechen, ich habe dieses und jenes Problem“. Es ist mein Job, in solchen Fällen zu helfen, und da ich an der angegebenen Adresse täglich vorbeikomme, besuchte ich sie kurz darauf, um die Angelegenheit zu besprechen. Als ich den exotisch ausgestatteten Raum betrat, dachte ich an alles, nur nicht an ein amoröses Abenteuer oder daran, mich zu verlieben. An die Große Liebe gar glaubte ich schon lange nicht mehr. Ich war zu jenem Zeitpunkt schon gut seit einem Jahrzehnt zur Überzeugung gekommen, ich könnte mich nicht mehr verlieben, dafür hatte ich einfach zu viel Sch... erlebt.
Ich kam herein und es funkte bei mir wirklich nichts, als ich eine "Hippietante" um die 40 erblickte. Eher geschäftsmäßig nahm ich die gutaussehende, wenn auch etwas melancholische Frau wahr, ich sah ihr sofort an, dass sie in jeglicher Hinsicht ziemlich viel erlebt hatte, so etwas hinterlässt Spuren, die ich aber keinesfalls unattraktiv empfand. Später sagte sie einmal, sie passe doch als "Hippietante" nicht in mein Beuteschema (da ich bisher Ärztinnen und Professorinnen bevorzugt hätte, was so nicht ganz stimmt), sie habe ja nicht einmal Abitur, aber sie würde es für mich nachholen... Ja, sie passte nicht in mein Beuteschema. Sie war keine Intellektuelle und verkehrt(e) mit etwas eigenartigen Leuten. Aber ich merkte schon bald, dass sie auf eine natürliche, intuitive Intelligenz zurücgreifen konnte und aus einem fast überreichlichen Erfahrungsschatz schöpfte, was ihren geringen formalen Bildungsstand mehr als ausglich.
Nun, ich setzte mich hin und schaute ihre Akte durch. Dabei musterte sie mich kurz von der Seite, kurz, aber doch etwas länger als normal, was mich wiederum verwunderte, denn in ihr Beuteschema passte ich ja nun eigentlich auch nicht, lebten wir doch in recht unterschiedlichen Welten.
Die besagte Angelegenheit aus meinem Tätigkeitsbereich, derentwegen ich meinen ersten Besuch machte, entwickelte sich durchaus schwierig, und ihr Büro lag günstig auf meinen täglichen Wegen, so dass meinem ersten Besuch weitere folgten, wobei mir immer irgendetwas Leckeres oder Belebendes serviert wurde.
Zufällig kam ich einige Monate später zu ihrer Geburtstagsfeier in das Büro, ein erstes Küsschen, ich streichelte ihr kameradschaftlich über den Rücken, ich merkte, wie sie bebte. Seitdem gab es bei jedem Besuch Küsschen. Wenn ich sie traf, tat und sagte ich oft Dinge, über die ich mich selbst wunderte, es war, als wenn mich etwas steuern würde. Ich war wie ein Resonanzkörper, ein Katalysator, über den etwas lief, worauf ich keinen Einfluss hatte noch haben wollte.
Nun gab es damals durchaus eine andere Frau, eine intellektuelle Künstlerin, die mich eben als Frau interessierte und auch schon entsprechende Kontakte gelaufen waren, wenngleich ohne seelischen Tiefgang. Auf einem Weihnachtsmarkt traf ich sie nach längerer Pause wieder und sie ging mich offensichtlich interessiert an. Wieder steuerte mich irgendetwas, ich erzählte ihr ohne Anlass noch Grund von dem exotischen Büro mit dieser interessanten Frau, die mit Kunsthandwerk handelt. Sie dozierte über den Unterschied, Kunsthandwerk selbst zu machen oder es aber nur einzukaufen und verschwand. Kurz darauf kam meine "Hippietante" mit ihrem Sohn. Der Sohn begutachtete mich, zudem wie wir uns anschauten und hüpfte daraufhin wie Rumpelstilzchen um die Mutter herum, immer im Kreis. Alles meins.
Einige Wochen später bereitete sie einen längeren Auslandsaufenthalt vor und ludt mich zu einer kleinen Feier ein, es gab ein Missverständnis über den Termin, so dass ich nicht kam. Zwei Tage vor ihrer Abreise kam ich noch einmal in ihr Büro, dieses Mal hatte ich meinen Sohn dabei. Nach einer halben Stunde brachen wir auf, um meine Tochter von der Schule abzuholen, mein Sohn ging vor. Ich sagte zu ihr, sie solle nur wiederkommen und nicht in der Ferne bleiben, das Gute liegt so nah, gab ihr ein, zwei Küsse auf den Backen und dann – ich fühlte mich wie beim ersten Mal vor 35 Jahren – gab es plötzlich einen richtigen Kuss... Sie schaute ängstlich zu meinem Sohn.
„Bis in zwei Monaten...“

Grüße aus Pink-City
Nun flog sie weit weg. Es kam eine SMS, wie sehr sie an mich gedacht habe, als sie über unsere eigenartige Stadt flog. Ich schickte einige Mails und SMS, zum Valentinstag das Bild einer Lotusblume zu dieser fremden Frau in einem fremden Land. Sie schrieb von dem Feuer, vor dem sie Angst hatte, Angst, dass es sie verzehrt, dass sie sich für ein paar Tage an einem einsamen Strand in eine Hütte zurückzieht, dann wäre erst einmal Funkstille und das wäre gut so... Ich verstand nicht alles so, schrieb zurück „Funkstille? Ich spüre Deine Gedanken...“ Ich wunderte mich über meine Worte und tat dies später immer wieder.
Endlich kam nach gut einer Woche wieder eine Antwort, sie war tagelang im Zug unterwegs gewesen, habe nicht viel antworten können und: „...würde dir gerne noch so viel erzählen... so viel Liebes rüberschicken... ach ja, bin ein absoluter Liebes-Schisser geworden,.. macht mir alles etwas Angst... fühlt sich aber wunderschön an..“ Irgendwie verstand ich das alles nicht so recht, es klang so überzogen. Ich wollte eine schöne Affäre, mehr nicht, was sollten diese Worte?
Und es kamen Worte, die mich weiter verwirrten: „Ich weiß nicht, was Du Dir wünscht, von mir erwartest. Ich kann Dir nur sagen was ich erwarte. Nichts. Noch nichts. Ist noch zu früh“.
Ich dachte: Was will diese Frau eigentlich? Ich antwortete unter anderem: „Was ich genau erwarte, weiß ich auch nicht, aber jedenfalls nicht "Nichts" wie Du.“
Da sie auch schrieb, dass sie ja eigentlich nicht in mein Beuteschema passe und nicht einmal Abitur habe, schrieb ich noch (wahrheitsgetreu), dass ich am folgendem Tag mit einer Museumsleiterein zu einer Ausstellung fahre und diese Frau natürlich eher in mein Beuteschema passe... war ironisch gemeint...
Antwort: „Ich wünsche Dir eine gute Reise mit Deinem Beuteschema. ... Ansonsten sorry, wenn ich Dir mit meinen "Nur-Nichts-Erwarten" auf den Fuß getreten bin. Ist so etwas wie ein Selbstschutz. Wer nichts erwartet, kann nicht enttäuscht werden. Da kommt wieder der Schisser in mir durch. Für Dich würde ich sogar das Abi nachholen.“
Als ich zurück war, schrieb ich, was ich damals wollte: „Ich wünsche mir eine wunderschöne Liebesaffäre“. Mehr nicht.
Sie antwortete: „...Diesen freien Tag habe ich mir für meine Gefühle, Gedanken, Ängste und meiner Liebe gewidmet. Ich habe mich in mein sonnendurchflutetes Zimmer gelegt, und in mich gehorcht... alle Ecken und Winkel durchstöbert, alle Schubladen aufgezogen und selbst die letzte dunkle Nische beleuchtet...habe überall Licht und Liebe hineingelassen. Ich bin so voll Liebe zu Dir... wow. Jede Zelle von mir ist erfüllt. Eine große warme Welle ist durch meinen Körper geschwabbt, hat sich durch mich bewebt und lebt. Dieses Gefühl hat die Erde umschlossen und ist weiter bis in die Unendlichkeit. Meine Liebe hat sich nicht nur mit Dir verschmolzen, sondern ist über alle Grenzen hinaus. Sie ist unglaublich stark. Das war heute, bevor ich deine e-mail gelesen habe. Ich weiß nicht, ob da nur eine Liebesaffäre ausreicht. Es bestätigt meine Ängste, dass ich mehr verlangen könnte. Ich will jemanden an meiner Seite, der es dann auch ernst meint, und nicht nur für heute und vielleicht morgen. Ich hatte immer nur Männer, die sich vor Verantwortung gedrückt haben. Kühlschrankhocker nenne ich sie. Den ganzen Tag nur vor meinen Kühlschrank hocken, kiffen, nicht arbeiten und keine Stütze sein. Sie haben mich ausgesaugt , meine Kräfte genommen. Deswegen wollte ich mich nicht wieder öffnen....bis Du aufgetaucht bist. ...habe mich lange gewehrt. Meine Gefühle zu Dir sind ja auch schon länger vorhanden....Liebesaffären sind wie ein Windhauch. Ich will nicht eingeengt sein, aber ich will mich auf jemanden verlassen. Ich brauche eine Stütze. Sorry, bin nicht nur ein Schisser sondern auch ein Dussel... Kann nicht mehr schreiben, meine Gefühle gehen mit mir durch.“
Ich verstand das alles nicht und antwortete in einem ersten Mail: „Also das ärgert mich jetzt aber schon. Erst betonst Du, dass Du nichts erwartetst, zwei Tage später willst Du alles sofort vom ersten Augenblick an. Dann schiebst Du mir so ganz nebenbei unter, dass ich Menschen und vor allem Dich nach dem Schulabschluss beurteile. Und für Deine Vergleiche mit Kiffern und Kühlschrankhockern habe ich Dir meines Wissens keinen Anlass gegeben. Ich denke fast jede Minute an dich und dann so was... das ist echt zum Abgewöhnen“.
Ich machte in der Nacht kein Auge zu. Ich hatte nie verborgen, dass ich verheiratet war und zwei Kinder hatte, war mit den Kindern auch öfters bei ihr gewesen, ich hatte meinen Ehering bis zu diesem Zeitpunkt nie abgelegt, sie war doch ein erwachsener Mensch, was verlangte sie von mir? Ich war verliebt in sie, aber ich war jetzt emotional überfordert. Um fünf Uhr am frühen Morgen stand ich auf, warf den Computer an und schrieb das zweite Mail: „Ich brauche endlich wieder einen klaren Kopf und ich muss endlich wieder einigermaßen schlafen. Ich kann mir diese sinnlose Verliebtheit einfach nicht leisten. Es ist völlig unmöglich und unmenschlich, was Du verlangst. Ich kann nicht Hals über Kopf meine Familie verlassen, noch dazu für jemanden, der alle paar Tage seine Meinung über eine eventuelle Beziehung vollständig ändert. Wenn ich es täte, würdest Du Dich wieder eingeengt fühlen. Es ist einfach völlig unmöglich, auch wenn ich Dich liebe.“
Nun, sie schrieb noch eine Antwort, bevor sie das zweite Mail von mir gelesen hatte: „Du brauchst Dich nicht zu ärgern. Die Kühlschrankhocker und Kiffer habe ich nicht mit Dir verglichen! Ganz im Gegenteil. Ich bin ja froh, dass Du da ganz aus dem Rahmen fällst, sonst hätte ich mich auch nicht in Dich verliebt... Sorry, dass meine Gefühle mich gestern überrannt haben. Bin recht verwirrt. Sollte an solchen Tagen gar nicht schreiben und warten bis ich alles wieder sortiert habe...oder sollte besser gar nicht schreiben. Bin in solchen Dingen nicht so gut. Und rate mal, an wen ich fast jede Minute denke?“ Zu diesem Zeitpunkt hatte sie offensichtlich das zweite Mail noch nicht gelesen.
Ich stehe morgens auf, das Handy ließ ich ausgeschaltet, grauer Morgen, zur U-Bahn, Aussteigen, durch den Durchgang zu diesem schönen, uralten, winzigen Platz mit seinen Fachwerk- und Sandsteinhäusern, über das Kopfsteinpflaster, brachte die Kinder zur Schule, es war kalter Winter. Die Kirche, die kleine Schule, alles wie immer, Hallo und Grüßgott, der Rektor begrüßt wie jeden Morgen alle Kinder, kennt fast alle mit dem Vornamen, der Sohn in die eine Klasse, die Tochter in die andere.
Es war nichts gewesen, es war alles nur ein böser Traum in dem eine kurze schöne Geschichte eingepackt war, in einem ganz bösen Traum, Traum, Traum....
Ich laufe die enge Gasse zwischen den alten Häusern, Glatteis, kalter Atem, die alte Blechtüre, die Treppe hinunter zum Fluss, ich nehme das Handy heraus, verdammt, irgendwann muss ich es ja doch einschalten. Erste Meldung „Anruf in Abwesenheit“, ich lösche sofort, später wurde mir klar, dass sie es aus 7000 Km Entfernung war. Dann Meldung “Neue SMS“, ich öffnete und las: „Sorry mein Feuer ist mit mir durchgegangen, war wohl eine bittere Wurzel in meinem Tee, übe noch mit der Geduld, nächsten Dienstag Frühstück bei mir?! Liebe Dich trotzdem. Eine Chance bitte. Sei fair, kann nicht mehr arbeiten, mein Herz blutet...“
(Fortsetzung folgt... irgendwann)

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